Montag, 10. November 2014

10. Kapitel

Extrageld hatten wir nicht zahlen müssen. Dafür hatten die Büsche neben dem Ausgang der Röhre bei der Drachenschenke einen neuen Anstrich bekommen. Mir war zwar schon im Auto, das uns zum Gemeindehau gebracht hatte, schlecht geworden, aber das hier war eine ganz andere Liga. Warum mussten die das Ding auch durchsichtig machen? Das Innere der Röhre vorbeizischen zu sehen machte alles wesentlich schlimmer.
„Von wegen gesunder Menschenversand! Das Ding ist mörderisch!“ Ich war bestimmt immer noch käsig im Gesicht, was den mitleidigen Blick erklären würde, den Blue mir zuwarf. „Und du, guck nicht so blöd!“, fauchte ich ihn an.
Schmollend zog er die Riemen seines Rucksacks enger und fuhr sich durch sein blaues Haar. Sofort tat mir mein Ausbruch leid.
Bevor ich mich entschuldigen konnte, tauchte vor uns die Drachenschenke auf. Das Gebäude verschlug mir den Atem. Es sah aus als hätte jemand Jahr für Jahr einen neuen Gebäudeteil angebaut, jedes Mal in einem anderen Stil. Das Grundgebäude schien ein Fachwerkhaus zu sein, dessen Holzbalken braun und die Füllung dazwischen weiß waren. Angebaut waren mehrere Zimmer mit Beton-, Stein- oder Holzwänden, die alle an einigen Stellen ineinander übergingen. Ein weiterer Teil war mit Säulen versehen wie das Pilzizeigebäude und das Gemeindehau. Wieder an einer anderen Ecke ragte ein Turm in die Höhe, auf dessen Spitze eine Fahne mit einem schwarzen Drachen auf rotem Grund gehisst war. Der Name „Drachenschenke“ war in Holzlettern an einen der Fachwerkbalken gehämmert worden.
„Wow.“
„Willkommen in der Drachenschenke. Hier werden Charaktere Wirklichkeit, alles ist möglich und nichts ist unmöglich“, sagte Blue, der mir anscheinend auch ohne Entschuldigung vergeben hatte. Oder er war nie sauer gewesen.
„Wie, Charaktere werden Wirklichkeit?“
„Manchmal tauchen im NaNo-Land Gestalten auf, die Charaktere in den Geschichten irgendeines Autors sind. Die Gerüchteküche ist sich einig, dass die höchstwahrscheinlich von hier kommen. Wenn Autoren mit ihren Charakteren reden – und das tun sie hier sehr häufig – dann werden die in einem gewissen Sinn lebendig. Also pass auf mit wem du sprichst.“
Es gab jede Menge Türen in der Drachenschenke, doch Phoenix ging zielstrebig auf eine relativ neu wirkende Tür im Fachwerkbereich zu. Ohne zu Klopfen trat sie ein und ich sah auch sofort weshalb.
Direkt hinter der Tür lag ein weiträumiger Schankraum, in dem sich Menschen und Gestalten aus scheinbar allen Teilen des Landes eingefunden hatten. Bei dem Lärm hätte es niemand gehört wenn man geklopft hätte. Die Anmeldung war gleichzeitig der Tresen, denn Phoenixfeder unterhielt sich eine Weile mit dem Wirt und kehrte mit zwei Schlüsseln zurück.
„Mr. Ian Woon hatte uns zwei Zimmer reserviert, da er noch nicht wusste, dass du auch mitkommst. Blue hat ein Einzelzimmer und wir drei ein Doppelzimmer. Der Wirt hat sich bereiterklärt noch ein Sofa reinzustellen, wenn du damit einverstanden bist.“
„Natürlich. Das ist gar kein Problem.“ Wenn ich mich schon für die Mission aufgedrängt hatte, musste ich mit sowas leben können.
„Dann würde ich sagen wir beziehen unsere Zimmer und kommen zum Essen hier runter. Wir hatten für einen Tag genug Aufregung. Und ich denke du brauchst etwas zu essen, da dein Frühstück in den Büschen gelandet ist.“ Phoenixfeder lachte.
Da konnte ich nicht widersprechen. Wir drei schulterten unsere Rucksäcke, doch Blue schaute bei irgendeinem Spiel zu, das zwei Männer an einem Tisch spielten.
„Hey, Blue!“ Er sah zu mir hinüber, dann zu Phoenixfeder, die ihm den Zimmerschlüssel zuwarf.
Dann nickte er knapp einem Schankmädchen mit funkelblonden Haaren zu, das am Tresen stand und auf einen nervösen Blick einredete. Langsam verstand ich warum man mich vor seltsamen Vorkommnissen gewarnt hatte. Als ich an einem der anderen Tische vorbeikam überhörte ich nur die Worte „Schnatz, ist alles in Ordnung?“ und erhaschte einen Blick auf eine Frau, die auf einen Schnatz einredete.
Fast war ich froh den Schankraum hinter mir zu lassen. Ich musste sowieso viel lernen, aber so viel auf einmal war hart. Ich versuchte immer noch mich an die ganzen seltsamen Namen zu erinnern. Mr. Ian Woon, zum Beispiel. Ich musste daran denken nachher zu schauen, ob das wirklich ein Anagramm für NaNoWriMo war.
Das Zimmer war größer als ich angenommen hatte. Es befand sich augenscheinlich in dem Teil des Hauses, der aus Backstein bestand. Dann wiederum konnte es sein, dass der Stein von außen noch mit etwas anderem überdeckt war, oder wir uns in einem der Mischzimmer befanden. Wirklich sicher konnte man sich hier wohl nie sein.
Die Einrichtung war das Interessanteste. Als erstes viel mir der Auchtisch auf. Dieser wurde, wie meine Oma mir versicherte, oft im Set verkauft mit dem Ebenfallssofa, dem Genausostuhl und dem Sowiesoteppich – was erklärte warum sich all diese Sachen hier befanden. Man merkte eindeutig, dass dieses Zimmer für Autoren gedacht war.
Da wir nicht viel mitgenommen hatten, war es kein Problem sich den Schrank zu teilen. Ein wenig Gepäck musste sowieso als Reserve in unseren Rucksäcken bleiben, da selbst Phoenixfeder nicht einschätzen konnte wie lange wir jeweils unterwegs sein würden. Was die Frage aufwarf wo wir genau hingehen würden.
Das besprachen wir beim Essen unten. Blue war bereits da und unterhielt sich angeregt mit dem Schankmädchen und dem Blick, der nicht mehr so nervös wirkte wie vorher.
„Wer bezahlt eigentlich unser Essen?“, fiel mir auf. Ich hatte nämlich alles dabei außer Geld.
„Das ist inklusive, also auch Mr. Ian Woon. Er meinte außerdem, er würde Umkosten übernehmen, sollte welche entstehen“, sagte Phoenix.
„Und ob die entstehen werden. Ganz als erstes willst du uns schon durchs halbe Land schicken!“, beschwerte sich Blue.
„Wo genau geht es hin?“, fragte ich zum wiederholten Mal, dieses Mal ungeduldiger als vorher.
„Es gibt einen Ort, das Kloster der Wunder. Wenn es je eine Zeit für Wunder gab, dann ist das jetzt. Wir brauchen ein Wunder und da können wir eins bekommen.“ Phoenixfeder nahm einen Schluck von dem Bier, das sie sich bestellt hatte.
Wunder also. Mittlerweile überraschte mich kaum noch etwas. Dachte ich zumindest. Blue nahm ebenfalls einen Schluck. Allerdings hatte er sich Wein bestellt und trank diesen aus einer Falsche. Warum die so genannt wurde, hatte mir keiner erklären können, obwohl ich danach gefragt hatte. Für mich sah es nur nach einer umgedrehten Flasche aus, bei der der Flaschenhals unten war, und die Öffnung am Flaschenboden, der nun oben war.
„Was ist, wenn die keine Wunder mehr haben?“, fragte ich.
„Die haben immer welche“, widersprach Blue.
„Aber was wenn nicht? Oder wenn sie nicht wirken? Brauchen wir keinen Plan B?“ Ein Plan B war immer gut. Besonders, wenn man ihn nicht brauchen würde.
Statt mir zu antworten, trank er weiter aus seiner Falsche. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht was wir sonst tun könnten. Außer vielleicht…“
Seine Gedanken wurden unterbrochen als ein blödes Mädchen die Tür öffnete. Woher ich wusste, dass es blöd war? Keine Ahnung. Nur so ein Gefühl. Außerdem erhoben sich zwei Personen vom Nachbartisch. Sie hatten schon eine Weile dort gesessen und einige Krüge Bier vernichtet. Seltsamerweise zog einer von beiden eine Pistole, was meinen Magen einen Schlinger machen ließ. Nach den Vorkommnissen des Tages war das kein besonders gutes Gefühl.
Der Mann und die Frau tauschten einen grimmigen Blick und der Wirt sah misstrauisch zwischen den Biergläsern hinter der Theke hervor.
„Wir schießen wohl besser die Tür“, meinte der Mann. Die Frau nickte ernst.
„Nein!“, schrie der Wirt, doch schon ertönte ein Schuss und die Tür hing in den Angeln.
Die zwei traten hindurch und schlugen die Tür hinter sich zu. Es gab ein schreckliches, quietschendes Geräusch, das mir alle Haare zu Berge stehen ließ, dann fiel die komplett aus dem Rahmen gerissene Tür in den Wirtsraum hinein.
„Warum immer meine Türen…?“, wimmerte der Wirt.
Unter seinem Tresen zog er Hammer, Nägel und neue Scharniere hervor. Dann machte er sich ans Werk und begann fachmännisch damit die Tür zu reparieren.
„Passiert das hier öfter?“, fragte ich, halb belustigt von den Vorkommnissen, halb mitleidig mit dem Wirt.
„Regelmäßig. Irgendwie bekommen die Leute es einfach nicht in ihren Kopf, dass man Türen nicht aufschießen soll. Deshalb ist die Tür da auch so neu. Nach ein paar Schüssen kann man die halt nicht mehr reparieren.“ Blue grinste und leerte die Falsche in einem Zug. „Es wird sogar gemunkelt der Wirt hätte einen extra Raum, in dem er nur neue Türen aufbewahrt. Wenn ich das hier so sehe, könnte das glatt stimmen.“
Nachdem wir unser Abendessen beendet hatten und die Tür vollständig repariert war, besserte sich die Stimmung in der Drachenschenke. Immer mehr seltsame Gestalten ließen sich blicken, bis irgendwann jemand den Wirt fragte, ob er nicht ein wenig Musik auflegen könnte. So kam es, dass über kurz oder lang das ganze Gasthaus den Neugiereigen tanzte.
Zumindest bis sich über den Lärm der Satz „Sekunde, ich schieß noch die Tür“ vernehmen ließ, gefolgt vom lauten „Neeeeein!“ des Wirts und des Donnerns eines Schusses als die Tür nun endgültig aus den Angeln brach.

7 Kommentare:

  1. Wein aus Falschen, sehr schön :D Bekenne mich schuldig.
    Es ist richtig schade, dass ich so selten daheim bin und Internet habe. Am liebsten würde ich täglich deine neuen Kapitel lesen =)

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    1. Demnächst wird auch noch erklärt wie genau die Falschen entstehen. Witzige Sache das... ;)
      Solange du sie noch liest. ^^

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  2. (Zitat) Blue hat ein Einzelzimmer und wie drei ein Doppelzimmer.

    Das Schlimme ist auch noch das ich mich nicht mal entschuldigen möchte, weil ich einfach so bin... ich hoffe mal ich nerve nicht zu sehr Kim.

    Falschen XD Top ^^ Und endlich sind wir in der Drachenschenke :) Ob wir im Forum auch mal die Türen aufschießen sollten <.<

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    1. Mich nervt es nicht. Sowas überlese ich gerne und dann ist es gut wenn mich jemand darauf aufmerksam macht (irgendwie passiert mir das beim "wir" besonders gerne. Mittlerweile vermute ich, dass ich da gerne einen Buchstaben vergesse und Word das "korrigiert"...).

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    2. Dann bin ich beruhigt... ja das ist vorstellbar.

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  3. Oh Gott... Ich musste SO lachen, als jemand die Tür beschossen hat und der Wirt so reagierte... Ich kann nicht mehr :D

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